Die Plattenkiste April 2023 ist ein gutes Beispiel für einen guten Start in den musikalischen Frühling. Jede Menge neue Musik. Und für den Mai haben sich auch schon jede Menge hervorragende Alben angekündigt.
Ich habe meinen Plan etwas geändert. Denn meine Plattensammlung weist mir aktuell nur noch 150 Releases aus, wo noch eine Bewertung fehlt. Von daher werde ich erst mal keine alten neuen Veröffentlichungen aufnehmen, sondern weiter Datenpflege betreiben. Und dann bleibt nur noch Kleinkram übrig. So etwas wie doppelte Labelbezeichnungen oder Künstlernamen finden und korrigieren.
µ-Ziq – 1977
Mike Paradinas veröffentlicht sein neues Album 1977 auf Balmat. Das mag vielleicht etwas verwunderlich klingen, weil sein eigenes Label Planet Mu doch nahe liegt. Ich entschließe mich nach den Hörbeispielen zum Kauf der limitierten Doppel-Vinyl-Ausgabe. Aber nicht die aus klarem Vinyl von Balmat, sondern die von Bleep auf rotem und blauem Vinyl.
Beim ersten Hören versuche ich Mike Paradinas wiederzufinden. Sein Sound ist doch schon sehr speziell und ich werde positiv überrascht. Es ist ein Album mit schnellen Sequenzerläufen, ein bisschen Ambient, ein bisschen IDM und ein bisschen experimentell. Dass es ein Album von µ-ziq ist, erahne ich erst bei den letzten Titeln.
Unterm Strich ist dieses Album eine positive Überraschung für mich. Mike zeigt, dass das Alter keine Ausrede für alten Wein in neuen Schläuchen ist. Ich finde im ersten Moment die Klänge bisweilen als sperrig. Aber schon allein für seinen Willen und seine Kraft, seinen bisherigen Sound abzuwerfen wie einen alten Mantel, bewundere ich das Album.
Paul St. Hilaire – Tikiman Vol. 1
Paul St. Hilaire ist Tikiman und umgekehrt. Mit seinem Namen verbinde ich eine Stimme, die in den elektronischen Bereich des Dub bzw. Dub-Techno hineingehört wie alle anderen Legenden des Dub auch. Paul wurde auf der wunderschönen Karibikinsel Dominica geboren, wohnt er jetzt meines Wissens nach in Berlin und arbeitet(e) mit allen zusammen, die im Dub-Techno-Bereich unterwegs sind.
Tikiman Vol. 1 ist das aktuelle Album von Paul St. Hilaire und hier gibt es nur die Stimme, viel Raum und Hall. Dabei begann Paul St. Hilaires musikalische Reise bereits Mitte der 1990er als Tikiman. Hier lieferte er mit den Größen Moritz von Oswald und Mark Ernestus auf dem Basic Channel Sublabel Burial Mix ab. Tikiman sollte aber keine Zukunft haben. 2003 musste Paul St. Hilaire aus rechtlichen Gründen den Namen ablegen. Aber offensichtlich hindert ihn das nicht, eine LP mit diesem Namen herauszubringen und uns alle in dieser hektischen Zeit etwas zu schenken, das Balsam für die Seele ist.
El Choop – Closing Motif EP
Echocord, um es mal richtig zu schreiben. Merkwürdigerweise hat sich in meinem Kopf Echochord festgesetzt, keine Ahnung warum. Auf jeden Fall erschien auf diesem Label eine neue EP von El Choop. El Choop ist Harvey Jones aus London. Was mich an der EP angesprochen hat, waren die Remixe von Deadbeat und Luke Hess.
Die ersten beiden Stücke – Faith und der Remix von Deadbeat – landen wie erwartet im Dub-Techno-Spektrum. Wobei Deadbeat noch mehr das Tempo rauszieht und es dann wirklich eher in die Richtung Dub tendiert. Mit dem zweiten Stück Closing Motif zu einem Phänomen, was mich immer wieder überrascht. Echocord und Dub-Techno gehen für mich gedanklich Hand in Hand. Aber Closing Motif ist eher Deep Techno und leisen Echos im Hintergrund. Luke Hess macht mit dem Original das gleiche wie Deadbeat, Tempo raus. Hoppla, schon ist die knappe halbe Stunde rum und ich muss die Scheibe noch mal hören.
JakoJako – Verve EP
JakoJako gehört zweifelsohne zu den Shooting Stars. 2019 die erste Veröffentlichung, inzwischen drei Alben und zwei EPs. Und 2023 nun die Veröffentlichung Verve auf Mute. Unter den Gesichtspunkten eines professionellen Marketings, weltweiten Vertriebs und sicheren Hafens kann ich JakoJako nur beglückwünschen. Wo ich aber meine Zweifel habe, ist die Narrenfreiheit die man bei kleinen Labels genießt. Natürlich hat man bei Mute Platz für Experimente. Aber auch nur, solange sie sich verkaufen. Es ist der Widerspruch, den große Labels mit sich bringen. Sie haben das nötige Geld in der Hinterhand, aber damit auch die Erwartung, dass sich die Investition auch irgendwann wieder auszahlt.
Kommen wir aber mal zur Verve EP. Der Sound ist etwas technolastiger geworden. Hatte der analoge, modulare Ansatz von JakoJako vorher noch etwas Verspieltes, rückt es jetzt mehr denn je in den Hintergrund und der tanzbare Teil wird präsenter. Mit Opak ist noch ein Track dabei, der an die vorherigen Alben anknüpft. Aber Nexus stellt etwas komplett Neues dar, erst gegen Ende lässt der Track durchblicken, dass hinter seiner technoiden Fassade ein spielfreudiger Synth steht.
Altone / Gradient – Day Drama / Night Drama
Seit ich das Label Lempuyang entdeckt habe, folge ich auf Bandcamp. Schon vor ein paar Wochen sah ich die Ankündigung einer Split EP von Altone / Gradient. Beide Meister eines unglaublich gechillten Dub-Techno. Deswegen war ich gleich Feuer und Flamme. Jetzt ist die Day Drama / Night Drama erschienen. Das Konzept der EP ist so simpel, dass schon einfach Freude macht. Gradient erstellte den Track Day Drama, Altone das Night Drama und beide machten ein Reshape des anderen Tracks. Vier Titel, die sowohl konzeptuell als auch musikalisch zusammen hängen.
Was mir an Dub-Techno gefällt ist seine Monotonie. Ähnlich wie bei Acid geht es hier nicht um große Melodien, sondern um Modulation. Ein Spiel mit Echos und Reverb. Das ist keine Musik, die sich einem aufdrängt. Dub-Techno ist wie Meditation, man muss sich darauf einlassen. Loslassen und versinken. Und genau das mache ich gerade. Ich schreibe und schon bevor ich es überhaupt greifen kann, sind die knapp 8 Minuten des ersten Titel vorbei.
Dib – Cieloterra
Mein neu gewonnenes Lieblingslabel Lempuyang hat ein Sublabel bekommen – Sanghyang Dedari. Nachdem ich Lempuyang als Tempel kenne, frage ich mich natürlich, was Sanghyang Dedari ist, da mir der Begriff noch nicht über den Weg gelaufen ist. Sanghyang ist ein traditioneller balinesischer Tanz, bei dem sich der Tänzer in Trance tanzt und Hyang – ein Geist aus der balinesischen Mythologie – den Körper des Tänzers in Besitz nimmt. Es gibt verschiedene Formen von Sanghyang, unter anderem Sanghyang Dedari. Dieser Tanz wird von Mädchen aufgeführt, die noch nicht in der Pubertät sind.
Lange Einleitung für das Label und jetzt stehe ich als nächstes vor dem Titel der EP – Cieloterra. Da steckt auf jeden Fall Terra drin – die Erde, aber Cielo? Klingt ein bisschen wie ceiling – die Decke. Und ich liege nicht falsch, denn es bedeutet Himmel. Also der Himmel auf Erden? Die Übersetzungstools schweigen sich aus.
Als Sublabel eines Dub-Techno-Label geht es hier natürlich so weiter. Die Chords sind heftig und ballern ordentlich. Ich brauche eine Weile, bis ich mich mit den Sound anfreunden kann. Im Laufe der EP normalisiert sich das sehr schnell, aber für den Anfang ist es schon ziemlich kantig.
Soul Warming Sonics
Schon seit längerem koppelt Spearhead Singles aus ihrer Compilation Soul Warming Sonics aus. Und diese Compilation steht bei mir schon seit langer Zeit auf meiner Wunschliste. Soul Warming Sonics klingt genau nach dem, was meine musikalische Seele manchmal braucht – Streicheleinheiten.
Und von denen gibt es 18 Stück. Natürlich in der gewohnten Qualität von allem, was Spearhead an Künstlern zu bieten hat. Von Labelchef BCee über LSB, The Vanguard Project zu Lens. Und so bekommt man 18 Tracks, die wie ein ewig langer Sonnenaufgang am Strand sind, wo am Strand ein leichter Wind weht.
Hermanez – Rewire
2021 entdeckte ich das Meta-Label für mich. Mittlerweile sind mir deren Releases zu housig. Dafür trat das Label Satya in Erscheinung. Die liefern genau diesen deepen Tech-House-Sound, den ich so gern höre. Jetzt ist Nummer 9 auf Satya erschienen. Sie kommt von Hermanez und heißt Rewire. Insgesamt sind hier 4 Tracks enthalten, die alle diesen speziellen Vibe haben, der zwischen energetisch und entspannt liegt.
Skee Mask – ISS009
In meinem Beitrag Techno ist tot habe ich geschrieben, dass sich im Bereich elektronische Musik nichts mehr groß bewegt. Natürlich war die Aussage mit Vorsicht zu genießen. Es gibt elektronische Musik, wo ich mich fast zu der Aussage hinreißen lassen würde, dass ich das auch hinbekommen würde – Zeit und Equipment vorausgesetzt. Und es gibt zum Beispiel einen Skee Mask, der es schafft, so easy mit Stilen zu arbeiten und dabei vielschichtig zu sein, dass es mich sprachlos dasitzen lässt.
Ilian Tapes haben das erkannt und für Skee Mask eine eigene Serie mit den Ilian Skee Series geöffnet. Aus dieser Reihe ist jetzt die ISS009 erschienen und auch diese steht ihren Vorgängern in nichts nach. Und wenn ich seine Musik höre, stelle ich mir immer wieder die Frage: Welche Fragen würdest du Bryan stellen, wenn du könntest? Wie und wo seine Musik entsteht? Oder woher die Einflüsse kommen? Oder vielleicht doch viel fundamentalere Fragen, weil man den Rest vermutlich schon in vielen anderen Interviews findet? Am Ende vielleicht doch lieber die Klappe halten und schweigend genießen.
Swoose – Breathe
Mein Gehirn kann sich mittlerweile nicht mehr alles merken, langsam ist der Laden ganz schön voll da oben. Deswegen musste ich jetzt schnell mal nachsehen, weil ich da eine Verknüpfung gespeichert hatte, die auf den ersten Blick wie ein Irrtum aussieht. Der erste Release von Feel My Bicep, den ich kaufte, erschien 2019. Und dann gibt es dann noch die Band Bicep, die mit ihrem gleichnamigen Alben 2017 für viel Aufsehen sorgten. Jetzt sieht es offensichtlich nach einem Irrtum aus, der einem deutschen Gehirn entspringen könnte. Bicep und Feel My Bicep… da steckt in beidem Bicep drin. Ungefähr wie in Heavy Metal und Metal Master in beidem Metal drin steckt. Täuschend, aber in dem ersten Fall doch nicht ganz ohne. Bicep veröffentlichen zwar auf Ninja Tune, sind aber die Kuratoren von Feel My Bicep.
Die ewig lange Vorrede diente zu nichts anderem, als eine Verknüpfung zwischen der Musik von Bicep und dem Release von Swoose zu finden. Denn die neue EP Breathe bringt ziemlich viel von dem Sound mit, den Bicep ins Leben gerufen haben. Und dann legen Kessler und Peach noch Remixe dazu, sodass insgesamt 4 Tracks entstanden sind. Und mich ärgert dann wieder ein bisschen, dass ich solche Musik nicht selbst entdecke, sondern über Podcasts finden muss.