Die Plattenkiste Juni 2022 hat wieder die gewohnte Mischung aus alt und neu – Techno, IDM und Drum & Bass. Kurz gesagt, es ist wieder alles dabei, was mir Freude bereitet. Und um ehrlich zu sein, habe ich einen Teil der Platten, die ich jetzt noch gekauft habe, in den nächsten Monat geschoben.
Die erste Jahreshälfte ist um und ich habe die Tage mal die bisherigen Releases durchgesehen, wer sich als Kandidat für Platte, Album, Label, Künstler oder Compilation des Jahres qualifiziert. Bei der Platte des Jahres bin ich mir noch nicht so sicher. Album des Jahres tendiert momentan in Richtung Birds ov Paradise. Obwohl es da noch mit JakoJako, Sven Väth oder Brainwaltzera noch Kandidaten gibt. Sollte ich PFM zum Künstler des Jahres wählen? In aller Regelmäßigkeit veröffentlicht er für lau seine Klassiker. Mike, der hinter dem Projekt steht, ist verantwortlich dafür, dass ich angefangen habe Drum & Bass zu hören. Mich haben dieses Jahr wieder mehrere Labels überzeugt. Wie immer dabei Delsin Records, Spearhead, aber auch Renaissance Records. Und bei den Compilations berührt mich gerade eine Ibiza-Compilation, die im Stile der Café del Mar-Compilations gemacht ist.
Bcee & Blu Mar Ten – Grow EP
Ich beginne mal mit einer Scheibe, die schon seit Ewigkeiten in meiner Wantlist steht. Und jetzt hat sich Spearhead entschlossen, einen Rabattcode über 50% für Vinyl zu veröffentlichen. Ganz ehrlich – wer bei 6 Pfund für eine Scheibe wie diese Nein sagt, tut mir echt leid.
Hinter der Grow EP stehen die Legende Blu Mar Ten und Labelchef Bcee. Erster Track: Featuring Charlotte Haining, derzeit meine Lieblingsstimme im Bereich Drum & Bass. Zum einen weil sie selten quietschig hoch singt, sondern sehr soulful im Alt-Bereich unterwegs ist. Nächster Track: Protected Secrets feat. DRS. Kann es noch besser werden?
Doch, es geht – bei Track vier bleibe ich wieder bei der Stimme hängen, die kenne ich doch! Ziemlich unverwechselbar, also suche ich schnell. Könnt ihr euch noch erinnern, wo ich keine Gelegenheit ausgelassen habe, von der Spearhead 100 den Track Is This Love im Dexcell Remix zu spielen? Leider hat der Dexcell Remix überdeckt, dass da eigentlich featuring Lucy Kitchen steht, die jetzt die Vocals zu Drawn The Line liefert. Und so sind schon drei der fünf Titel vom Line Up sensationell. Und liefern sie? Mit Sicherheit!
JakoJako & Rødhåd – In Vere
In den vielen Jahren, in denen ich jetzt schon elektronische Musik höre, hat sich in meinem Kopf festgesetzt, dass Musik, welche die Markierungen „modular“ und „Synthesizer“ trägt, oft schwer verdaulich ist. Das hat zum einen damit zu tun, dass Aphex Twin in den letzten Jahren da vielleicht nicht unbedingt ein leuchtendes Beispiel war und weil sich Leute hart abfeiern, weil sie eine ganz exquisite Verkabelung hergestellt haben, die aber nach 20 Sekunden einfach nur nervt.
Dass es auch anders geht, beweist das neue Album von JakoJako & Rødhåd. Es fängt so unglaublich harmonisch und leicht schwebend an, dass ich eine leichte Brise spüren kann und sich bei einem tiefen Atemzug meine Lungen mit der salzhaltigen Luft des Meeres füllen. Mit anderen Worten, In Vere beginnt wunderschön.
Nach den ersten drei Tracks beginnt der tanzbare Teil. Die Sequenzer laufen gut. Aber der hört schnell wieder auf und ich fühle eine gewisse Verwandtschaft des Albums zu Hoavis letzten Werken. Nur ist das hier die freundliche, leicht zugängliche Alternative.
µ-Ziq – Furthur Electronix Trax
Als nächstes komme ich zu einem größeren Block von µ-ziq aka Mike Paradinas. Erster Release, den ich hier aufführen möchte ich Furthur Electronix Trax. Diese drei Songs wurden bereits im März von Mike veröffentlicht und waren bisher nur Bestandteil von Compilations, die auf dem Label Furthur Electronix erschienen sind.
Jetzt erscheinen die noch mal zusammengefasst als ein Release. Wer die alten Tracks von µ-ziq aus den frühen 90ern mag, wird auch diese Scheibe lieben. Zum einen gibt es da den Track Syon Vista, der nicht weiter ist als eine verlangsamte Version des Track Swan Vesta, 1993 auf der Tango’n’Vectif erschienen. Und dann gibt es da noch Meridioid. Ich habe jetzt meine gesamte Sammlung an µ-ziq-Alben durchstöbert und konnte diese Melodie nicht wiederfinden. Aber ich war mir sicher, dass ich sie von einem µ-ziq-Song kenne. Bis ich es fand: Aphex Twin – On (µ-ziq Remix).
µ-Ziq – Magic Pony Ride
Weiter geht es mit µ-ziq. Angefangen hat es mit dem Remaster der Lunatic Harness, die ihr 25-jähriges Jubiläum feierte und deshalb von Mike remastert wurde. Als er schon mal dabei war, setzte er sich wieder hin und probierte etwas herum. Im ersten Schritt kam die neue EP Goodbye, jetzt das Album Magic Pony Ride.
Inspiriert wurde das Album außerdem von einem Ausritt auf Island, was dem Album vermutlich den etwas merkwürdig anmutenden Titel gegeben hat. Für mich ist nach wie vor die Tango’n’Vectif sein bestes Album, aber Magic Pony Ride kommt schon ziemlich dicht heran. Er nutzt die positive Stimmung, die er schon auf der Chewed Corners gezeigt hat (alle anderen Alben danach waren ja altes Material) und setzt es fort und arbeitet mit Breakbeat und Jungle-Loops. Ohne dabei aufzuhören µ-ziq zu sein.
Und wenn schon Magic Pony Ride wie ein Kinderbuch klingt, muss der leuchtende Stern des Albums, der nicht fehlen darf Elka’s Song sein, den Mike zusammen mit seiner Tochter geschrieben hat.
µ-Ziq – Pthagonal EP
Für den dritten Release brauchen wir wieder Geschichtsverständnis. 2015 veröffentlicht Richard D. James wahllos Songs von seinen Tapes. Mike Paradinas zieht nach, nur organisiert und geordnet – Tape für Tape. Manche Tracks zum Download, manche nur zum Hören.
Das Label Revoke pickt sich einige Tracks heraus und bringt 2017 die Pthagonal EP heraus, die auf 100 Stück limitiert ist. Alle Exemplare sind von Hand mit der Beschriftung gestempelt – statt µ-ziq steht deshalb u-ziq auf dem Cover. 2019 erscheint die EP schon mal, noch ohne Katalognummer als FLAC. Und jetzt haben wir 2022 und die vier Tracks werden unter der Katalognummer ZIQ390 herausgebracht und spiegeln das Schaffen von Mike Paradinas in den Jahren 1992-94 wider.
RX-101 – New Discoveries
In der letzten Ausgabe habe ich es schon geteasert, ein neues Album von RX-101 steht vor der Tür. Beziehungsweise kann es ja nicht neu sein, denn seine gesamte Musik, die bisher erschienen ist, wurde zwischen 1997 – 1999 produziert.
Schon im Vorfeld der New Discoveries wurde der Titel damit näher erläutert, dass der Sound diesmal weniger im Bereich des Aphex Twin liegen soll, sondern doch mehr Referenzen zu Detroit Techno spannen soll. Um so mehr war ich gespannt, ob sich das bewahrheiten würde. Deswegen habe ich nur kurz in die beiden Snippets reingehört und dann sofort die Pre-Order ausgelöst.
An der Authentizität zweifle ich dabei überhaupt nicht. Es gibt zwei, drei Tracks die definitiv durchblicken lassen, dass eine Referenz zu den bisher erschienen Alben besteht. Und das dürfte auch erläutern, warum auf dem Album nur acht Tracks sind, während es bisher immer 13 Songs waren. Es war einfach nicht genügend Detroit-Material vorhanden.
Obwohl ich mit dem Gedanken gespielt habe, mir die limitierte Ausgabe dieses Albums auf Vinyl zu holen, habe ich es lieber bei der Digitalausgabe belassen. Trotzdem war der Andrang auf das Vinyl groß. Und das wirft wieder die Frage auf – ein Künstler kippt reihenweise geniale Alben raus, die auch noch sehr gefragt sind. Und trotzdem findet man nichts zum Menschen, der hinter dem Projekt steht. Als wäre er einfach Ende der 90er vom Erdboden verschwunden.
Tammo Hesselink – Mantis 07
Dieses Jahr sind noch keine Mantis-Releases auf Delsin erschienen. Das sollte sich jetzt ändern. Eigentlich hätte ich jetzt auf grünes Vinyl spekuliert, aber Delsin belässt es bei den regulären schwarzen Ausgaben. Da ich die Serie bisher digital angefangen haben, setze ich diese Tradition auch fort.
Und ihr müsst nicht befürchten, dass ich wieder auf Avatar zurückgreife. Nein, denn die Mantis 07 von Tammo Hesselink bleibt der Tradition der bisherigen Releases treu. Aber der mystische Teil entfällt und es geht sehr minimalistisch zu. Der Beat poltert unregelmäßig und wird leise klingenden Sounds begleitet. Monoton, ruhig, meditativ. Vielleicht bildet der Track Fixed Distance da einen Ausreißer, aber der Rest ist ruhig und behäbig, aber kraftvoll – wie der Gang eines Elefanten.
Terrain – Mantis 08
Wenn die Essenz der bisherigen Mantis-Release war, etwas Magisches und Schwebendes zu beinhalten, deutet sich mit den Releases 7 und 8 eine Änderung an. Natürlich kommt die Mantis 08 wieder darauf zurück, aber trotzdem entfällt hier teilweise wieder der ruhige, schleppende Charakter, in dem es Tracks mit höherem Tempo gibt.
Somit kehrt auch Terrain dem klassischen Mantis-Release den Rücken zu und macht mehr Platz für Techno. Ja, aber trotzdem bleibt noch ein Hauch Mantis enthalten, der sich aber hinter so vielen Echos verbirgt, dass es auch der Werkzeughangar eines riesigen Raumkreuzers sein könnte. Schiffe starten und landen, es herrscht rege Betriebsamkeit und trotzdem konzentrieren wir uns auf die Reparaturarbeiten. Mal fällt scheppernd ein Werkzeug herunter, eine Schweißnaht muss neu gesetzt werden und das alles schnell, damit die Flotte wieder komplett ist.
Deetron – Mind Eclipse EP
Gehe ich in meine Plattensammlung und suche nach Deetron, taucht der Name das erste Mal 2016 mit der AUS100 auf. Der nächste Release war dann für Im Orbit und ich war überrascht. Deetron kommt nicht aus den USA? Dieser Sound war so amerikanisch, dass ich mich schwer tat, ihn in die Schweiz zu verschieben.
Deswegen war es höchste Zeit, dass ich mal einen Release von Deetron höre. Nach vielen Releases auf Music Man, Axis und anderen Detroit-nahen Labels fiel ich fast aus allen Wolken, als ich Trance hörte. Ist es jetzt wirklich das neue Ding, dass alle das goldene Zeitalter zurückfordern? Okay, der Titeltrack Mind Eclipse klingt zu offensichtlich – vielleicht deswegen auch in Klammern TranceHouzzTool.
Aber warum dann Mind Eclipse? Trance hat ja nie aufgehört zu existieren, er hat sich nur weiterentwickelt und schnell die Kinderschuhe der 90er verlassen. Und weswegen greifen viele junge Künstler diesen Sound jetzt wieder auf und machen Trance wieder, wie er eigentlich klingen sollte? Und wieso sieht das Cover wie ein gruselig heruntergerechnetes Bild aus den 90ern aus?