Für diese Folge von Unknown Territory habe ich mich umentschieden. Erst sollte es um Footwork gehen. Aber in Vorbereitung eines der nächsten Themen, stolperte ich über EBM. Dabei dachte ich, dass es doch mal interessant wäre, hier einen kurzen historischen Abriss zu machen.
Unknown Territory ist eine Serie, wo ich musikalisch über den Tellerrand hinausschaue. Ich entdecke Musik, die mir zwar geläufig ist, wo ich aber bisher nie die Zeit fand, mich intensiver damit zu beschäftigen. Ich werde dabei in die Vergangenheit eintauchen und wenn möglich auch einen Bezug zur Gegenwart herstellen.
Was mich dazu bewegt hat, war dass mir Front 242 immer wieder über den Weg liefen. Angefangen hatte es mit der Deep Heat II. Einer Dance-Compilation von 1991 auf Doppel-Vinyl. Und mittendrin Tragedy for you. Total verstörend! Und später war da noch die Headhunter 2000, wo ich damals drei oder vier Maxis daheim zu stehen hatte. Da waren Remixe von Resistance D und Suspicious (ich sag nur Love Waves) dabei. D.h. es war ein bunt gemischtes Programm aus Techno, Rave und EBM.
Genau dieser Gedanke faszinierte mich! In meinem Kopf waren EBM und Techno ja doch nicht so weit von einander entfernt. Deswegen wollte ich mir mal die Zeit gönnen und diesen Aspekt näher untersuchen. Ausgehend von meiner Sammlung gab es mal Ende der 1980er / Anfang der 90er eine kleine Überschneidung, sodass Techno Tracks und EBM Songs auf einer Compilation landeten. Aber danach war gefühlt eine Mauer zwischen beiden.
Aus diesem Grund will ich mich mal anhand der „großen Namen“ im EBM durch die Zeit hangeln und schauen, wo es Berührungspunkte mit der Musikwelt gibt, die ich kenne. Weiterhin bin ich gespannt, was mich musikalisch erwartet. Ich habe zwar hier und da schon EBM-Tracks gehört – siehe oben – aber einen tieferen Einblick habe ich noch nicht gewagt.
Außerdem ist die Serie dafür da, dass ich mich mal näher mit Themen auseinandersetze, für die ich bisher keine Zeit hat. Und da ist EBM ein prädestiniertes Thema.
Front 242 – Geography (1982)
Erste Station meiner Reise ist das Jahr 1982. Da erschien das Debütalbum Geography von Front 242. Wir sind am Anfang der 1980er. Wir sind mitten im Kalten Krieg. Die ersten Computer erobern den Heimbereich (z.B. der ZX81 Spectrum). Die Musik, die ausschließlich mit Synthesizern erzeugt wird, setzt sich durch. Was da noch fehlt, ist eine dystopische Vision auf die Zukunft, die genau diese Faktoren kulminieren lässt.
Wer die Serie Max Headroom in den späten 1980ern gesehen hat, der gewinnt ein Bild davon, was manchen Künstlern damals durch den Kopf gegangen sein mag. Für mich war EBM immer die Musik einer Welt, die von Computern durchdrungen ist, wo der Mensch nur noch eine Maschine ist und sein halb kybernetischer Körper mit kalter Präzision Befehle befolgt. Sei es nur der Befehl zu Tanzen oder der Befehl zum Angriff.
Also gleiche ich mal meine Vorstellung mit dem ersten Album ab. Oder beginnen wir schon beim Namen. Front ist ziemlich einfach, weil es auch in viele Sprachen übertragen werden kann. Aber „242“ fand ich da schon interessanter. Denn diese Zahl repräsentiert den Beschluss 242 der Vereinten Nationen, dass es unzulässig ist, Gebiete durch Krieg zu erobern und daran zu arbeiten, die friedliche und stabile Bedingungen zu schaffen, dass jeder Staat in Sicherheit existieren kann. War Anfang der 1980er aktuell und könnte in der aktuellen Zeit nicht zutreffender sein.
Das erste Album von Front 242 liefert schon mal ein gute Idee, welche Richtung EBM nehmen wird. Auch wenn der Begriff erst auf ihrem zweiten Album das erste Mal erwähnt wird. Die Musikpresse reagierte damals verstört auf das militärische Auftreten und die Ausschnitte von Kriegsfilmen bei Livekonzerten. So entstand bei ihnen der Eindruck einer faschistischen Formation, was die Band strikt ablehnte.
Um einen technoiden Rhythmus zu kreieren, musste man damals noch andere Wege gehen. Deswegen sind hier weniger harte Beats zu finden. Kein Wunder wenn man bedenkt, dass die TR-909 erst ein Jahr nach dem Debütalbum veröffentlicht wurde.
Nitzer Ebb – That Total Age (1987)
Front 242 haben es sich mit ihrem Namen schon einfach gemacht, wo bei man jetzt überlegen kann, ob es Zweihundertzweiundvierzig ist oder ein kurzes englisches two-four-two. Da machen es uns Nitzer Ebb schon schwieriger. Britische Band, aber Nitzer reizt schon ungemein, das Wort deutsch auszusprechen. Gedanklich mache ich das mal so, sonst klingt es irgendwie nach nicer.
Nitzer Ebb gründeten sich 1982 und somit hat es fünf Jahre bis zu ihrem Debütalbum That Total Age gedauert. Als ich anfing das Album zu hören, kamen mir sofort zwei Sachen in den Sinn. Zum einen war die Musik deutlich vom Punk beeinflusst. Wobei ich da eher auf die Vocals referenziere. Und weiterhin verspürte ich eine gewisse Nähe zu Depeche Mode. Liegt auch nahe, denn beide Bands sind befreundet und Nitzer Ebb spielte 1987 als Vorband für Depeche Mode in Europa.
Wobei jetzt bei mir Fragen aufkommen! Befreundet sein ist Zug, der in zwei Richtungen fährt. Und damit würde sich für mich auch erklären, warum Music For The Masses doch zu Teilen für mich aus der Reihe schlägt. Titel wie Pimpf und Agent Orange konnte ich zu dem Zeitpunkt irgendwie musikalisch oder vom Titelnamen nicht so richtig zu Depeche Mode zuordnen.
Front Line Assembly – Tactical Neural Implant (1992)
Warum ist dieses Album in meiner Liste? Genau aus zwei Gründen. Fakt Nummer eins ist das Video zu Mindphaser. Und vielleicht entstand mein Bild von EBM genau durch bzw. wegen diesem Video. Gigantische Kampfpanzer, ein hochintelligenter Zentralcomputer und der Mensch steht fast nur noch beratend an der Seite eines Lagers.
Zweiter Punkt ist schon die Kombination aus Bandname und Albumtitel. Klingt wie ein Science-Fiction-Roman. Vielleicht auch interessant, weil im Jahr davor Terminator 2 – Judgment Day erschienen war. Der Kampf Mensch und Maschine gegen Maschine. Nur dass eine Maschine halb menschlich war, zumindest äußerlich.
Vielleicht hatte EBM auch nur seinen Charme, weil die Mensch-Maschinen-Vision noch aus einer Zeit stammte, wo man von überdimensionalen Computern träumte und ganzen Städten im All, wo sich die Menschheit verbreitet. Konnte ja damals noch keiner ahnen, dass die Computer so schnell so klein wurden und irgendwann die Fusion keinen Sinn mehr machte, weil ein Smartphone in der Größe eines Portemonnaies alles konnte, was man sich von einem Hybrid versprochen hatte.
Die Jahrtausendwende
Bis zu dieser Stelle in meiner Zeitreise habe ich Bands bzw. Alben bewusst gewählt. Stellt sich natürlich die Frage nach dem Warum? Ich habe Mitte der 1990er meine dunkle Seite (wieder-)entdeckt und mir die alten Alben von Depeche Mode gekauft, weil ich gerade auf der Spur von And One, Wolfsheim, De/Vision etc. war.
Bei der Entwicklung von Wolfsheim habe ich etwas gespürt. Für mich ist Dreaming Apes nach wie vor ihr bestes Album. Spectators war nice, aber Casting Shadows? Um beim Albumtitel zu bleiben – ein Schatten ihrer selbst. Warum? Bis ich dahinter stieß. Gilt für EBM, als auch für Synth-Pop. Ende der 1980er war jeder, der sich einen Synthesizer, eine Drummachine leisten konnte und da irgendwelche Töne erzeugte, noch ein Novum. Seit Mitte der 1990er überholte die Technologie diese Einstellung. Plötzlich konnte das jeder. D.h. wer jetzt bleiben wollte, musste was können. Wer zu diesem Zeitpunkt noch stoisch an seiner alten Einstellung festhielt, war vom Aussterben bedroht, denn der Sohn vom Nachbarn klang mit seinem simulierten Rack mit 15 Devices am Rechner wesentlich vielschichtiger.
Ist dann Minimalismus ein Argument? Da haben Wolfgang Voigt und Richie Hawtin schon die Karten neu gelegt. EBM blieb nichts weiter übrig, als über den Tellerrand zu schauen und mal zu sehen, was die anderen so machen. Und genau dieser Eindruck entstand in mir. Gefühlt waren EBM, Darkwave und Synth-Pop plötzlich ein paar Jahre hinterher.
In dem Zusammenhang noch ein Wort zum Publikum. EBM war eine Männerdomäne, keine Diskussion! Aber mit der musikalischen Neuausrichtung wurde der Begriff Weiberelektro von Zeitgenossen ins Leben gerufen. Sie zielte darauf ab, dass diese neue Musikausrichtung mehr Frauen auf die Tanzfläche zog. Dazu gab es dann auch eine satirische Webseite, die sich mit Musik befasste, aber das auf eine sehr humorvolle Art und Weise.
Diese ganze lange Vorrede diente jetzt eigentlich nur dazu, um den Kontext für das nächste Album zu schaffen. Denn der Synth-Pop holte sich jetzt die Ideen aus dem Dance / Trance-Bereich. Und der reine EBM schien zur Jahrtausendwende ausradiert. Denn was übrig war, verschmolzt mit Synth-Pop und ihrem süßen Pathos von „Nichts kann uns trennen. Ich beschütze dich vor der Welt und gemeinsam kämpfen wir gegen alle bis ans Ende der Zeit.“
And One – Aggressor
Und damit Bühne frei für And One. Und ja, das könnte jetzt länger werden! Meine erste Begegnung mit And One war die Best Of, die 1997 erschien. Das ist quasi Basiswissen in Sachen And One. Weil auf And One muss man sich von zwei Seiten einlassen – brutal ernst, wie Deutschmaschine, aber auch total daneben, wie Klaus oder Pimmelmann.
Und ihre Live-Konzerte waren auch dementsprechend. Da gab es ordentlich Party, aber auch eine Stelle, wo die Band die „gewerkschaftlich vorgeschriebene Pause“ anordnete und erst mal nichts machte, bis sich alle Gäste auf den Boden gesetzt haben. Aus dem Stehgreif würde ich sagen, dass And One die Band mit den meinen meisten Konzertbesuchen ist. Weil es halt einfach Spaß gemacht hat. Und nicht zuletzt, weil es bei jedem Konzert ein paar Cover-Versionen von Synth-Pop-Klassikern gab. Depeche Mode, Camouflage, you name it.
Als ich die Musik von And One entdeckte, war ich schon zu spät dran. Weil irgendwie der Anteil von den „grenzdebilen“ Songs begann zu kippen. Ich habe das schon bei der Nordhausen nicht verstanden. Da kommt der Aufruf zur Gewalt (Sitata Trulala) und ganz zum Abschluss hauen sie einen mit Nordhausen um. Ja, Rassismus ist nicht nur ein Problem, wo Asylbewerberheime angezündet werden, sondern überall. Versteht natürlich nur der, der zuhört.
Ich habe mir aber hier den Aggressor rausgesucht, nicht weil das Album noch mal besonders gut wäre, sondern der Kontext des Albums. Und so entstand nach dem Komplettausfall der Virgin Superstar doch ein besonderes Album. Nach dem Anschlägen am 11. September gab es eine Rasterfahndung, d.h. Leute wurde pauschal verdächtig, weil auf sie ein Kombination von Eigenschaften zutrifft. Und so wurde aus dem Musiker Steve Naghavi (nicht in Deutschland geboren), der gerade Flugstunden genommen hat und unregelmäßig größere Geldbeträge bekam ein potenzieller Terrorist. Keine Ahnung, wie dieses Album geworden wäre, aber durch diesen Fakt, der das Album erheblich verzögerte, hatte das Album aber an Härte gewonnen und passt deshalb gut in die Reihe.
Nach der Aggressor kam die Bodypop. Vom Titel eine Referenz auf EBM und Pop-Musik. And One waren ja schon im Laufe der 1990er immer mehr vom EBM zum Synth-Pop gewandert. Aber was mich davon abhielt ihre Musik weiter zu verfolgen, war die immer flacher werdende Kurve des Anspruchs ihrer Songs.
Tief im zweiten Jahrtausend
Bevor ich zum Ende komme, muss ich noch eine Sache loswerden, die mir beim Durchhören diverser Alben aufgefallen ist. Ich habe Skinny Puppy, Velvet Acid Christ, Youth Code, aber VNV Nation oder Apoptygma Berzerk probiert. Geht man ins zweite Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wird der Verfall des EBM immer deutlicher.
Es gibt keine Fusion von Mensch und Maschine mehr, vielmehr hängt der Mensch am Tropf der Maschinen. Musikalisch ist es wie von mir beschrieben eine Fusion von Synth-Pop und EBM. Aber man hatte auch Ende der 1990er schon bemerkt, dass der rammsteinige Weg vielversprechend erschien. Der Nachteil dieses Ansatzes ist, dass die Kombination von brachialen Beats, stakkatohaften Synths und deutschen Texten im Umfeld Mensch, Maschine und Gott ein bizarres Bild zaubern.
Deswegen blickte ich auch mal über den Teich und probierte Youth Code aus. Das war dann für meinen Geschmack zu destruktiv. Ich wünschte mir mehr Progression. Gleichzeitig fiel aber trotzdem auf, dass sich die Künstler immer gern mehr Elemente der elektronischen Tanzmusik borgten. Was mir in dem Zusammenhang besonders gefiel, war wenn es in die Richtung Psychedelic Trance tendierte. Ja, Goa Trance hatte eine gewisse Geschwindigkeit und die Härte, um gut dazu zu passen.
Wo Anfang der 1980er die Musikpresse Bands wie Front 242 noch vorwarf, durch ihr Auftreten und das Zeigen von Kriegsfilmausschnitten faschistoiden Tendenzen zu zeigen, bleiben die Bezüge zu Krieg und das für die Szene übliche schwarze Outfit weiterhin bestehen. Damit wird auch ein Publikum angelockt, was eher auf die Fassade als auf die Bedeutung achtet.
Es ist keine Kriegsverherrlichung die da betrieben wird, aber dieses Thema „Gemeinsam im Kampf“ zieht sich doch ein bisschen durch. Oder das Beschimpfen von Frauen als Schlampen, weil sie mit einem Schluss gemacht haben. Also haben sich die Bands und Publikum gegenseitig angenähert. Ich picke da einfach mal Funker Vogt raus. Nachdem der ursprüngliche Sänger, der auch bei Ravenous mitgewirkt hat, die Band verlassen hat, suchte man Ersatz, der aber nicht lange hielt, weil da deutliche rechtsradikale Hintergründe bekannt wurden. Also kam der Sänger von Agonoize und beim Durchhören stieß auf auf diese Lyrics:
Warum kann sich dann niemand hier in Deutsch artikulieren?
Agonoize – Deutsch
Ich bin kein Rassist und ganz sicher kein Faschist
Einfach nur ein Typ, der das „Zuhause“ fühlen vermisst
Ich lasse das mal so als Abschluss stehen und komme zum üblichen Fazit.
Fazit
Was war: EBM war ein Phänomen, dass mich in den frühen 1990ern streifte und nie richtig losließ. Wie man hoffentlich mitbekommen hat, war ich nie wirklich dabei, aber auch nicht ganz weltfremd.
Was ist: Gerade wenn ich das Thema EBM chronologisch betrachte, finde ich die gegenseitige Entwicklung von Technologie und Fortschritt der Musik sehr interessant. Auch wie sich EBM begann aufzulösen und mit anderen Stilen zu fusionieren, war eine Beobachtung wert.
Was wird: Die Klassiker sind gut, ich erwarte aber jetzt keinen sprunghaften Boom zurück zum EBM. Hat EBM ein latentes Problem mit Rechtsradikalismus? Nach dem was ich gehört habe, ein deutliches Ja. Und damit gibt es nur zwei Wege. Entweder die Dystopie der Anfänge bewahrheitet sich oder Künstler erobern den EBM zurück.