Dadurch, dass mein Urlaub bis in den Dezember reinreichte, ist die Plattenkiste November 2023 nicht wirklich vollständig. Aber vor dem Urlaub einen Schlussstrich zu ziehen war an der Stelle sinnvoll.
Mittlerweile verteilt Spotify sein Wrapped und das ist dann für mich immer der Zeitpunkt, wo ich auch schon mal meine Datenbankabfrage starte und bei einigen Sachen überrascht bin, aber trotzdem keine wirkliche Überraschung drin steckt. In dem Atemzug mache ich mir dann auch gleich immer Gedanken über das Best Of 2023. Beim Durchschauen der Neuzugänge war ein Großteil schnell klar. Aber aktuell kämpfe ich noch mit dem Album des Jahres. Werde ich meine aktuelle Idee über den Haufen werfen und ein kürzlich erschienenes Album im Schlussspurt die Zielgerade passieren lassen?
The Future Sound Of London – Environment 7
In 2008 starteten Future Sound Of London ihre Environment-Serie. Was mit zwei sperrigen Tracks, die jeweils über 20 Minuten lang waren, begann, setzte sich im 2-Jahres-Rhythmus bis zur Environment 6.5 fort. Wie ihr schon an der Nummerierung erkennt, ließen sich die beiden jeden Freiraum. Da danach eine Pause folgte, vermutete ich, dass die Serie beendet ist.
Um so mehr überraschte mich dann letztes Jahr das Erscheinen der Rituals E7.001. Schon als erster Teil einer dreiteiligen Serie markiert. Was mich schon damals gestört hat, war der ziemlich unverschämte Preis von 12 Britischen Pfund (ohne Mehrwertsteuer!) für 17 Tracks, die mit 60 Minuten Laufzeit auch nicht wirklich gerechtfertigt schienen. Und wie für FSOL üblich, stellen sie bei Bandcamp nur einen Song zum Reinhören bereit. Gleiches traf dann auch für die im gleichen Jahr erscheinende A Space Of Partial Illumination E7.002 zu. Wo andere Bandcamp-Künstler mit Rabatten von 15% locken, blieben FSOL maximal bei 10%.
Aber wenn ich so viel kritisiere, warum gibt es diesen Eintrag dann? Weil Future Sound Of London machte mit der Environment 7.003 etwas Grundsätzliches richtig. Sie gingen mit dem Preis auf 8 Pfund zurück und ließen den Design-Schnick-Schnack weg. Als Cover gab es schlichtes weiß mit einem dicken, fetten FSOL-Aufdruck. Eine Reminiszenz an die glorreiche ISDN. Und klanglich kann man FSOL einfach nichts vorwerfen. Der einzige Grund, warum ich mich bei ihren Releases schwer tue, ist ihre Arroganz bezüglich Preis und Vorhören von Tracks.
Kessler – Lunar
Kessler ist der Meister der Broken Beats. Das hat er mit seinen letzten Veröffentlichungen eindrucksvoll bewiesen. Und jetzt steht er mit der Lunar vor der Tür und möchte sich Gehör verschaffen. Da passt wirklich keine Schublade mehr dafür. Ist das Drum & Bass, Jungle oder Footwork? Auch in gewisser Weise lassen Herr James bzw. Herr Paradinas mit ihren Werken Ende der 90er grüßen.
Also alles in allem sehr komplexe Drum-Programmierung, kein Loop, der den ganzen Song durchläuft. Und erst recht der Song Hiyah, der eine Ode an alle Jungle-Hymnen der 90er ist. Ich habe dabei kaum ein Ohr für die Begleitung, weil es schon allein kompliziert genug ist, den vertrackten Beats zu folgen.
Sofia Kourtesis – Madres
Sofia Kourtesis veröffentlicht ihr Debütalbum Madres. Ich schwanke initial noch, also lasse ich es nebenbei laufen, während wir die Wohnung einrichten. Anfänglich war ich überrascht, dass es so lang ist, aber dann stellte ich fest, dass es auf Repeat läuft und wir den ersten Titel bereits zum dritten Mal hören. Also steht die Entscheidung fest – das Album muss in die Plattenkiste.
Sofia hat ihre Wurzeln in Peru. Wie man unschwer erkennen kann, ist das Album ihrer Mutter gewidmet. Und um das Schicksal ihrer Mutter rankt sich auch der Titel Vajkoczy. Nachdem bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert wurde, suchte sie überall Hilfe, aber alle hielten eine Operation für zu riskant. Also machte sie einen gewagten Move – sie wandte sich an den weltbekannten Neurochirurgen Peter Vajkoczy. Sie postete, dass sie ihm einen Song auf ihrem Album widmen würde, wenn er ihrem Fall Aufmerksamkeit schenken würde. Der Versuch wurde belohnt, ihre Mutter wurde erfolgreich operiert und wohnt jetzt mit ihr in der Nähe von Berlin.
Sofia sagt in Bezug auf ihre Musik, dass sie ein lateinamerikanisches Herz hat, aber einen deutschen Motor. Genau das hört man jedem einzelnen Song an. Jeder Track hat so viel Herz, bringt aber auch gleichzeitig enorm viel Energie rüber. Sofia musste Peru verlassen, weil sie gezwungen wurde, wegen ihrer Queerness eine Zwangstherapie zu machen. Demzufolge setzt sie sich für eine Gleichbehandlung in ihrer Heimat ein.
VC-118A – Waves of Change
VC-118A hat vor zwei Jahren sein letztes Album Spiritual Machines auf Delsin veröffentlicht. Hört man sich jetzt sein neues Album Waves Of Change an, findet man viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede. Waves Of Change ist ruhiger geworden.
Deswegen ist es ein schwieriges Album um einen kurzen Abschnitt zu hören und sich schnell zu entschließen. Das Album muss man wirklich in voller Länge durchlaufen lassen. Denn die Songs tendieren dazu sich nur hier und da minimal weiterzuentwickeln. Und gefühlt ist jede Nacht durchzogen von Geräuschen, die man im Dschungel vermuten würde. Hier wurden mit viel Liebe zum Detail Schicht für Schicht zum einem komplexen Gewebe zusammenbracht.
Reeko – Energía Magenta
Drei mal dürft ihr raten, welche Farbe die limitierte Auflage dieser Scheibe hatte? Energia Magenta ist ein Energiebündel, das wild strampelnd seine Reserven entlädt. Mein liebster Track ist 7 Horas En El No Tiempo – zu deutsch 7 Stunden im Handumdrehen. Reeko lässt den Song 2 Minuten lang langsam und monoton hochkochen und zündet dann leise ein Arpeggio, das sich in den Vordergrund orgelt. So braucht es auch keinen Break und es kann direkt weitergehen. Aber dafür braucht es auch ausreichend Zeit für den Cooldown.
Insgesamt vier Tracks umfasst die Energia Magenta und damit ist das Optimum erreicht. Wären es mehr Tracks von der Sorte, wäre mir das zu viel. Zu viel geballte Ladung. Aber so ist die perfekte Dosis erreicht.
Technimatic – For All Of Us
Endlich ein neues Technimatic-Album! Musste ich überhaupt reinhören? Ja, sicherheitshalber habe ich das mal gemacht. Betrachte ich die Alben in meiner Plattenkiste: 2014 – Desire Paths, 2016 – Better Perspective, 2019 – Through The Hours, hätte eigentlich das neue Album letztes Jahr erscheinen müssen. Aber sind wir ehrlich, wir haben alle ein Jahr unseres Lebens irgendwo verloren.
Das Schöne an den Technimatic-Alben ist ihre Perfektion. Fast jedes Album hat irgendwo eine Perle versteckt, die sich entweder sofort offenbart. Oder es wird der Spannungsbogen direkt dahingezogen. Aber auf For All Of Us sind alles Perlen. Und egal wie ich drauf bin, irgendein Song gefällt mir. Deswegen schaue ich immer auf die Tracklist, mein Herz macht einen Hüpfer, weil ich garantiert etwas Tolles entdecken werde, aber dann fällt mir kein spezieller Titel auf.
Als ich das erste Mal das Album in voller Länge hörte, war ich im Fitnessstudio. Ich stand auf dem Laufband und lief das erste Mal nach Monaten wieder. D.h. bei mir eine Pace von 6:00min/km. Und plötzlich bricht Sunburst los. Ich kann nicht anders – das Tempo wird unmittelbar auf 5:00min/km hochgedreht und den gesamten Song gehalten. Drum & Bass läuft…
Mark & Matt Thibideau – Monumental Change
Die Gebrüder Thibideau mit der Monumental Change als gemeinsame EP auf Berg Audio. Hat früher Mark Thibideau noch allein Musik gemacht, veröffentlich er in den letzten Jahren immer mehr mit seinem Bruder Matt. Beide mit einer speziellen Liebe für deepen Sound im Bereich des Dub-Techno.
Ich musste zugeben, dass ich mit dieser EP am längsten diesen Monat zu kämpfen hatte. Sie ist gut, aber nicht so gut, dass ich sofort gefangen bin. Dafür fängt sie etwas zu durchschnittlich an. So wie man ins Meer geht und erst mal erschrocken ist, weil die Wellen so hoch sind oder das Wasser zu kalt. Doch steht man eine Weile drin, lässt man sich treiben oder bewegt sich. Man wird eins mit dem Wasser. Dann ist es auch nicht mehr so schlimm. Und am Ende will man doch nur widerwillig aus dem Meer. Und so auch hier – Monumental Change ist eigentlich der beste Track, kommt aber als letztes.