Ja, so hab ich ihn immer genannt, meinen Vati. Er war zu dem Zeitpunkt, wo ich anfing ihn so zu nennen, schon kleiner als ich, aber es war meine Bezeichnung dafür, dass er für mich immer ein Vertrauter und – auch wenn ich mich gut um mich selbst kümmern kann – eine Art Beschützer war. Der Blogeintrag ist zum einen dafür gedacht, dass ich die Ereignisse seiner letzten Wochen verarbeiten will und zum anderen das Bild eines geliebten Menschen zeichnen möchte, der trotz der Diagnose „Leberzirrhose“ kein Trunkenbold, Quartalssäufer und/oder ungepflegter Mensch war.
Meine früheste Erinnerung an meinen Vati ist, als ich 4 Jahre alt war und das erste Mal um Mitternacht zu Silvester aufstehen durfte. Mein Vati hatte am 1.1. Geburtstag und da wurde immer reingefeiert. Ich wurde geweckt und übergab meinem Papa eine selbstgemalte Karte und eine Schlüsseltasche, die „ich“ ihm geschenkt habe. Die Jahre gingen ins Land, ich erinnere mich an die gemeinsamen Abendessen in unserem Ende-70er-Anfang-80er-Jahre-Stil Ostwohnzimmer, ich erinnere mich, wie wir uns gegenseitig gekitzelt, gelacht und Ringkämpfe veranstaltet haben, ich erinnere mich, wie wir am Wochenende nach dem Mittagessen immer mal Mittagsschlaf gehalten haben. Eines unserer gemeinsamen Rituale war immer, dass wir in der Woche früh zusammen einen Pfefferminztee getrunken haben, bevor wir auf Arbeit / in die Schule gingen.
Später übernahm er auf Arbeit mehr Verantwortung und er konnte nicht mehr so oft zum Abendessen da sein. Da wir vor der Wende kein Telefon hatten, warteten wir immer, ob er um 18 Uhr daheim war und wenn er kurz danach nicht kam, hieß es wohl, dass es wieder etwas später wird. Später hatte er dafür gesorgt, dass ich meinen Ausbildungsplatz in der Firma bekam, wo er arbeitete. Und in der Zeit, wo ich zwischen Ausbildung und Fachabitur / Studium etwas in der Luft hing, sorgte er dafür, dass ich nebenbei bei ihm arbeiten konnte, um meine Finanzen aufzubessern. Rechnungen abheften, auf dem Firmengelände Rasen mähen und ähnlicher Kleinkram.
Er war immer die Ruhe in Person, immer sachlich. Auch in meiner rebellischen Teenager-Zeit blieb er ruhig und egal gegen wen oder was ich rebellierte – er versuchte zu schlichten und zu beruhigen. 1998 baute ich mein eigenes Nest und wurde lange Zeit von meinen Eltern finanziell unterstützt, weil das Bafög nicht reichte. Nachdem er seine alte Firma verlassen hatte, stellte sich mein Vati auf eigene Füße und gründete sein eigenes Unternehmen, was auch erfolgreich lief. Anfang der 2000er wurde er das erste Mal krank und musste ins Krankenhaus. Damals machte ich mir noch keine Sorgen, er war schnell wieder draußen und genau der selbe wie vorher.
Als ich dann nach Bamberg zog, besuchte ich meine Eltern zu Beginn noch fast jede Woche. Daraus wurden im Laufe der letzten Jahre Monate, ich nahm mir zwar vor wöchentlich anzurufen, aber nicht selten wurden 2-3 Wochen daraus. Zumindest konnten wir – obwohl wir uns im letzten Jahr nur sahen, wenn wir unseren Hund in die Obhut meiner Eltern gaben – zusammen Weihnachten feiern. Genau das ist auch ein Punkt, der mich sehr berührt. Ich steh in der Basketball-Halle, wärme mich auf und plötzlich wird mir klar, dass der Basketball den ich in der Hand halte, eins der letzten Geschenke ist, die er von meiner Wunschliste bestellt hat (weil es meine Mutti nicht so mit der Technik hat).
Anfang 2014 brachen meine Eltern einen Urlaub ab und mein Vati musste ins Krankenhaus und ich hatte schon Angst, weil es kritisch klang. Aber er kam wieder raus, alles war gut, bis auf das folgende „Wenn mir mal was passiert…“-Gespräch. Das war zwar anders, aber ich spürte keine Veränderung an meinem Vati und machte mir auch deshalb keine Sorgen. Auch wenn das ein bisschen wie Vernachlässigung klingt, war es in Wirklichkeit Sorglosigkeit, denn ich ging davon aus, dass der Vati genau wie seine Eltern weit über 80 Jahre alt werden würde.
Bis zu dem Zeitpunkt wo wir im Urlaub in Thailand waren und die Mutti schrieb, dass der Papa ins Krankenhaus gekommen ist. Also sind wir postwendend vom Flughafen München nach Dresden gefahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Krankenhaus aber schon wieder verlassen. Im Nachhinein eine gute Idee, denn dieses Mal war das letzte Mal, wo ich ihn zwar noch schwächelnd, aber bei vollem Bewusstsein erlebt habe. Wenige Tage später wurde er wieder ins Krankenhaus gebracht und die Ärzte meinten, dass er es wohl nicht mehr verlässt. Es folgte der Moment, den man sich als Kind nie wünscht – wenn der Tod eines Elternteils greifbar nahe rückt. Da steht man plötzlich vor einem Berg an Papier, von dem man noch vor 3-4 Jahren gesagt hätte „Vati, kannst du dich bitte mal darum kümmern?“ und muss plötzlich stark genug sein, die Tatsache mental zu verarbeiten und gleichzeitig meiner Mutti das Gefühl geben, dass immer noch jemand für sie da ist.
Vielleicht sollte ich erzählen, wie es sich anfühlt, wenn man am Krankenbett seines Vatis steht (28.2.) und der nicht mal mehr weiß, was er gestern Mittag gegessen hat. Und seine einzigen Worte den ganzen Nachmittag ein sich ständig wiederholender Satz sind. Oder wie meine Mutti sich fühlt, wenn sie mir heute (6.3.) erzählt, dass er sie nicht mehr erkannt hat und mit bösen Beschimpfungen fortgejagt hat, obwohl ihn Zeit seines Lebens immer eine Aura der Ruhe umgab. Verwirrtheit und Persönlichkeitsveränderungen sind Folge dessen, dass nichts mehr entgiftet wird und die Giftstoffe ungefiltert ins Gehirn gelangen.
Ursache? Ursachen für Leberzirrhose gibt es viele, an erster Stelle wird Alkoholmissbrauch genannt. Wie ich schon eingangs erwähnte – im Laufe meine gesamten Lebens habe ich meinen Vater nie als großen Trinker erlebt. Deswegen sollte man auch nie andere Faktoren außer acht lassen. Zum Beispiel Medikamente, wie Paracetamol oder Kava Kava, die wegen ihrer Leber schädigenden Wirkung vom Markt genommen wurden. Bestätigt wird meine Theorie dadurch, dass ich gelesen habe, dass 50% der Leberzirrhose-Patienten innerhalb der nächsten 5 Jahre sterben. Also lag er mit den 14 Jahren seit der ersten Diagnose weit darüber. Und irgendwie fiel mir gerade (17.6.) ein, dass er lange eine Salbe verwendet hatte und einige Jahre später schlug die Hautärztin nur die Hände über dem Kopf zusammen, weil die Zusammenstellung stark quecksilberhaltig war. Häufig führen auch falsche Medikamente (z.B. bei Diabetes Typ 2, wie er es hatte) zu einer Verschlimmerung der Leber.
Oder vielleicht sollte ich noch ein Wort über unser tolles Gesundheitssystem verlieren, wo – nachdem mein Vati 3 Wochen auf der Überwachungsstation liegt – die Ärzte ohne uns zu fragen entscheiden, dass sie die Medikamente einstellen und er wohl in den nächsten Stunden/Tagen sterben wird. Zwei Tage später beschließen sie, ihn auf die normale Station zu verlegen. Kaum war er dort angekommen, wird meine Mutti zum Termin gerufen und ein Arzt fragt, ob sie ihn nicht doch lieber mit nach Hause nehmen möchte. Dazu sollte man vielleicht sagen, dass er, seit er auf der Normalstation (14.3.) ist, sich in einer Art Dämmerzustand befindet, 24 Stunden Betreuung braucht, weil er sich nicht mehr bemerkbar machen kann.
Und am Ende steht da die Angst, dass man jeden Tag regelmäßig auf sein Smartphone schaut, weil vielleicht „der Anruf“ gekommen ist, den man eigentlich nicht bekommen will. Tag für Tag ruft man zuhause an und erkundigt sich danach, wie es dem Vati geht und auch wenn es von Tag zu Tag keine Änderung gibt, vergleicht man seinen Zustand mit dem der Vorwoche und muss feststellen, dass es nicht besser geworden ist. Und dann kommt am 20.3. dieser Moment der Stille, wenn kurz nach 21 Uhr das Telefon klingelt und man schon beim Klingeln genau weiß, dass es jetzt soweit ist…
Ruhe in Frieden Vati, du warst für mich immer ein Vorbild und ich bin immer stolz darauf, wenn man mir sagt, dass ich in meinem Wesen dir sehr ähnlich bin.